· 

Das selbständige Beweisverfahren als Mittel des Arzthaftungsprozesses

Mit dem selbständigen Beweisverfahren sieht die Zivilprozessordnung (ZPO) ein gerichtliches Verfahren vor, in dem unter bestimmten Voraussetzungen – insbesondere zu Beweissicherungszwecken – Beweismittel erhoben werden können. Es soll eine relativ rasche Beweissicherung ermöglichen, um der beweispflichtigen Partei auch dann eine Beweisführung bei Durchsetzung ihrer Ansprüche zu ermöglichen, wenn diese verlustig zu gehen drohen. Die Beweiserhebung geht in diesen Fällen dem Hauptsacheverfahren voraus.

 

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat sich bereits seit längerem bestätigend dazu geäußert, dass Beweisfragen aus dem Bereich des zivilen Arzthaftungsrechts als Gegenstand eines selbständigen Beweisverfahrens nach § 485 Abs. 2 ZPO in Betracht kommen (Senatsbeschlüsse vom 24. September 2013 ­ VI ZB 12/13, BGHZ 198, 237 Rn. 18 ff.; vom 21. Januar 2003 ­ VI ZB 51/02, BGHZ 153, 302, 305 ff., juris Rn. 10 ff.). Nach § 485 Abs. 2 ZPO kann eine Partei, solange ein Rechtsstreit noch nicht anhängig ist, die schriftliche Begutachtung durch einen Sachverständigen unter anderem dann beantragen, wenn sie ein rechtliches Interesse daran hat, dass der Zustand einer Person oder die Ursache eines Personenschadens festgestellt wird. Ein rechtliches Interesse ist anzunehmen, wenn die Feststellung der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann.

1. Problematik

Offengehalten hat der BGH bislang, ob auch Beweisfragen betreffend Aufklärungsmängeln im selbstständigen Beweisverfahren gestellt werden können. Bei den Instanzengerichten wurde teilweise die Auffassung vertreten, dass Fragen der ärztlichen Aufklärung grundsätzlich nicht Gegenstand des selbständigen Beweisverfahrens sein können, weil sie keine der in § 485 Abs. 2 Satz 1 ZPO genannten Fallgruppen beträfen. Nach der anderen – ebenfalls von Teilen der Rechtsprechung vertretenen Auffassung sollen Fragen zu Inhalt und Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht, auch in Bezug auf Behandlungsalternativen, im selbständigen Beweisverfahren nicht grundsätzlich unzulässig sein.

2. Entscheidung des BGH

Der BGH hat sich nun der letztgenannten Einschätzung angeschlossen (BGH, Beschl. v. 19. Mai 2020 – VI ZB 51/19 u. Beschl. v. 6. Juli 2020 – VI ZB 27/19). Fragen an den medizinischen Sachverständigen zu Inhalt und Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht betreffen die Ursache eines Personenschadens und können daher der in § 485 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 ZPO genannten Fallgruppe zugeordnet werden. Aufklärungsfehler kommen im haftungsrechtlichen Sinne als Ursache eines Personenschadens in Betracht. Hierzu ist es erforderlich, dass aufgrund einer fehlerhaften oder unzureichenden Aufklärung keine wirksame Einwilligung vorliegt und dass die ohne Einwilligung durchgeführte Heilbehandlung für den geltend gemachten Gesundheitsschaden ursächlich geworden ist.

 

Der medizinische Sachverständige kann zwar im Rahmen des selbständigen Beweisverfahrens in der Regel weder abschließend feststellen, ob ein Aufklärungsmangel vorliegt, noch, ob dieser für den geltend gemachten Personenschaden relevant geworden ist. Denn der Inhalt des für die Frage der Erfüllung der Aufklärungspflicht regelmäßig maßgeblichen Aufklärungsgesprächs lässt sich im Wege des Sachverständigenbeweises nicht ermitteln. Auch handelt es sich bei der Beurteilung, ob eine Aufklärung ordnungsgemäß erfolgt ist, um eine juristische Wertung, die nicht dem Sachverständigen, sondern dem zur Entscheidung in der Hauptsache berufenen Gericht, obliegt und damit nicht Gegenstand des selbständigen Beweisverfahrens sein kann. Dies ändert aber nichts daran, dass die Frage, welcher Aufklärung es im konkreten Fall bedarf, und damit, ob ein für den geltend gemachten Personenschaden relevanter Aufklärungsmangel in Betracht kommt, grundsätzlich nicht ohne die Beurteilung des medizinischen Sachverhalts durch einen Sachverständigen beantwortet werden kann. Insbesondere bedarf es regelmäßig sachverständiger Feststellungen zu der Frage, welche konkreten Risiken und Alternativen bei der streitgegenständlichen Behandlung bestehen. Denn Umfang und Intensität der Aufklärung sind an der jeweils konkreten Sachlage auszurichten, und zwar sowohl an der konkret medizinischen Behandlung wie am konkreten Patienten, unter Berücksichtigung seiner speziellen beruflichen und privaten Lebensführung.

 

Die Zulässigkeit von Fragen zum Inhalt der ärztlichen Aufklärungspflicht im selbständigen Beweisverfahren kann auch nicht mit dem Argument verneint werden, es fehle am erforderlichen rechtlichen Interesse im Sinne des § 485 Abs. 2 ZPO, weil es sich dabei um eine bloße "Vorfrage" für die Feststellung einer Haftung wegen Aufklärungsmängeln handele. Ein rechtliches Interesse ist vielmehr bereits dann nach § 485 Abs. 2 Satz 2 ZPO anzunehmen, wenn die Feststellung der Vermeidung eines Rechtsstreits dienen kann, auch wenn möglicherweise eine abschließende Klärung durch das einzuholende Sachverständigengutachten nicht möglich ist und weitere Aufklärungen erforderlich erscheinen. Diese Voraussetzung wird hinsichtlich der Feststellungen des Sachverständigen zu dem aus medizinischer Sicht erforderlichen Inhalt der ärztlichen Aufklärung in der Regel erfüllt sein. Denn steht aufgrund des im selbständigen Beweisverfahren eingeholten Sachverständigengutachtens fest, welche Risiken und gegebenenfalls welche Behandlungsalternativen aus medizinischer Sicht hinsichtlich der streitgegenständlichen Heilbehandlung bestanden, können die Parteien, die regelmäßig eigene Kenntnisse oder Erkenntnismöglichkeiten hinsichtlich des Inhalts des tatsächlich geführten Aufklärungsgespräches haben, in den meisten Fällen beurteilen, ob eine Aufklärung über diese Risiken und Alternativen stattgefunden hat. Dies kann sowohl der Patientenseite helfen zu entscheiden, ob Ansprüche wegen Aufklärungsfehlern weiterverfolgt werden, als auch der Behandlerseite, ob insoweit eine vergleichsweise außergerichtliche Regelung in Betracht kommt.

 

Sinn und Zweck der prozessualen Beweissicherung nach § 485 Abs. 2 ZPO, die Gerichte von Prozessen zu entlasten und die Parteien unter Vermeidung eines Rechtsstreits zu einer Einigung zu bringen, können daher auch durch die Klärung medizinischer Fragen zum Inhalt der ärztlichen Aufklärungspflicht erfüllt werden. Gerade in Fällen, in denen bereits ein Sachverständigengutachten zu Fragen im Zusammenhang mit dem Vorwurf eines Behandlungsfehlers im selbständigen Beweisverfahren eingeholt wird, liegt der prozessökonomische Vorteil einer gleichzeitigen Klärung des medizinischen Sachverhalts im Hinblick auf den Umfang der ärztlichen Aufklärungspflicht auf der Hand.

3. Bewertung

Der BGH weist selbst im Rahmen der getroffenen Entscheidung darauf hin, dass die rein rechtliche Bewertung zu der Zulässigkeit eines selbstständigen Beweisverfahrens bei vermuteten Aufklärungsfehlern nicht als Antwort darauf zu verstehen ist, ob dieses Verfahren auch zweckmäßig ist. Hieran äußert das Gericht – völlig zu recht – Zweifel. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein Rechtstreit nach Einholung des Sachverständigenbeweises im selbstständigen Beweisverfahren ohne Hauptsacheverfahren auflösen lässt, ist äußerst gering. Das selbstständige Beweisverfahren dient nicht der bei Aufklärungsversäumnissen äußerst maßgeblichen Feststellung des Sachverhalts, es kann nur Antworten auf medizinische Streitfragen geben. Wenn aber schon vor Einholung eines Sachverständigengutachtens klar ist, dass dieses nicht geeignet ist, der Streitbeilegung zu dienen, spricht wenig dagegen, sämtliche notwenige Streitfragen als Hauptsache anhängig zu machen. Für ein selbstständiges Beweisverfahren streitet hier auch nicht das Risiko einer Beweisvereitelung. Es ist kaum denkbar, dass die per Sachverständigengutachten in Zusammenhang mit Aufklärungsfehlern zu erhebenden Beweise verlustig zu gehen drohen.